Sie fließen dahin, ins Nirvana. Meine Zeit, Energie und Leidenschaft. Weggeworfen, in einen Strom aus Aktienkursen und Dividenden. Ich labe mich am freudigen Hoch und erbreche mich übers düstere Tief. Vor einem Jahr begann die Berg-und-Tal-Fahrt, vor einem Jahr habe ich mich dem sozialen Druck der Enddreißiger gebeugt: „Sorry, aber du riesterst nicht?“ „Du hast keine Kinder?“ „Wat, du kannst nicht fahren?“ „Willst du so vor die Tür gehen?“ Da muss man seine Fühler doch in Richtung Reichtum und Depot ausstrecken! Was ist denn heutzutage bitte noch sicher? Bei der Marktlage. Pah! Ich war also fortan willens, als Warren Buffet aus Flingern in die Geschichtsbücher aufgenommen zu werden. Ran an den Markt. Mit ständig neuen Überweisungen und hektischen Zukäufen habe ich mein finanzielles Wohl eindrucksvoll dem vielleicht größten aller Risiken ausgesetzt: der Börse. Weil ich mich einen Scheiß damit auskenne.
Genau da setzt Trade Republic an, meine neue Lieblings-App. Die nimmt dem Markt den Schrecken, raubt ihm die Tragweite. Aus dem Moloch wird ein Spiel. Es dauert nur wenige Sekunden, schon ist man viel Geld los. Gebühr? Ein schlanker Euro pro Trade. Und Sparpläne gibt es auch. Die sind gratis. Geil! Also schnell den Haken setzen, Ich bin ein Idiot, und dann Abfahrt ins Risiko. Auf dass grüne Zahlen sprießen und nirgends Rot zu sehen sei. Soweit die Theorie.
Tatsächlich war es zu guter Letzt mein kleiner Bruder, der mich noch am Heiligen Abend 2020 an die Börse getrieben hat. Mein Vorwissen hielt sich in Grenzen. ETFs sind gut. Alles andere mal sehen. Meine ersten Hunderter flossen folgerichtig in den verheißungsvollen Global-Clean-Energy-ETF, der sich völlig nachvollziehbar immer weiter nach oben schrauben würde. Hatte er ja schließlich schon einige Zeit lang exakt so gemacht. Überhaupt gehen ETFs eigentlich nur nach oben, richtig? Zack, schon kaufe ich Automation & Robotics, investiere in Healthcare Innovation und die weltweite Digitalisierung. Keine Frage. Daran glaube ich doch. Und auch einzelne Unternehmen treffen meinen Geschmack. Ohne groß zu forschen pumpe ich Geld in E.ON und in Microsoft sowieso. Meine erste Aktie kostet dort knapp 197 € und schnell setzt sich der US-Riese an die Spitze meines Depots. Es folgen tägliche Aufrufe der App (ca. 60 Mal am Tag) und oberflächliche Analysen von Trends, Firmen, ETFs, Kursverläufen etc. Im Dialog mit zwei geschätzten und geduldigen Arbeitskollegen lerne ich Portale kennen, die die Qualität von Aktien einschätzen, und höre aufgeregt zu, wenn die beiden sich austauschen. Da werden Firmen über Wochen und Monate sondiert, 10-Jahres-Kerzen verglichen, Quoten und Zahlen übereinandergelegt und über die Wichtigkeit der KGV philosophiert. Ich bin wieder Grundschüler, setze mich, halte die Fresse und nicke das meiste einfach nur ab.
Schlüsse ziehe ich aus den informativen Gesprächen erschreckend wenige. Gefällt mir ein Unternehmen und scheint der Einstieg gerade irgendwie attraktiv, zücke ich das virtuelle Portemonnaie, schmeiße Geld in das Depot und kaufe dafür eine Aktie nach der anderen. Ich lege Sparpläne an, lösche diese regelmäßig wieder, nur um wenige Minuten später erneut alles anzulegen – aber diesmal natürlich durchdacht und nachhaltig.
Tatsächlich gelingt es mir, wenn ich das nach ca. 13 Monaten mal sagen darf, nicht vollends ins Minus zu geraten. Ich wurde nicht vertilgt, nicht zerkaut und ausgespuckt. Aber reich auch nicht. Völlig überraschend. Mein Depot hat sich bei ziemlich genau -1.250 € eingependelt. Es ist mittlerweile so aufgeblasen, dass ich täglichen Schwankungen von knapp 350 € ausgesetzt bin, die meist nach unten gehen, aber mich kaum schockieren. Wird schon wieder. Ich glaube dran. Außerdem kann man nur 100 % verlieren, aber 250 % gewinnen. Wunderbar. Schlechten Menschen geht es immer gut.
In meinem Jahr am Markt habe ich zwar nicht gelernt, was eine reife und erwachsene Börsenstrategie ist, aber durchaus meine Erfahrungen gemacht. Das Gamestop-Wunder, der Sturmlauf der Kryptos, der Absturz von PayPal. Ich habe anstelle einer Dividende in einem Spin-off eine ganze Aktie (einer anderen Firma) geschenkt bekommen, was zumindest den meisten Leuten kein Begriff war. In meinem hochgradig internationalen und stark diversifizierten Depot befinden sich Firmen, die mit 15/15 bewertet werden und mich mit 788 € ins Minus reißen (PayPal), und solche, die mit 01/15 bewertet sind und bei mir mit 363 € im Plus stehen (BP). Ich sehe, wie der Markt nicht auf gute Zahlen reagiert (Oatly) und wie ein vermeintlicher Impfstoff erst aufsteigt, um dann kolossal abzustürzen (Curevac). Es ist spannend, die Kursveränderung. Manchmal dauert es Jahre, manchmal Minuten. Langsam komme ich dahinter, wie Potenzen funktionieren und wann ein Nachkauf Sinn machen könnte. Aber ich folge leider nur meiner eigenen Unlogik, keinem Fachwissen. Deshalb auch der tägliche Blick in die App. Weil es um mein Geld geht, aber auch, damit ich zumindest ein bisschen was lerne. Andere befassen sich mit Firmenstrukturen, wissen, was Staatsanleihen sind und kennen sich mit Inflation und Zinspolitik aus. Ich beobachte nur. Versuche meine Schlüsse aus dem zu ziehen, was ich seit einem Jahr erlebe.
Gelernt habe ich, wie wichtig mir ein guter Einstieg ist, so wie ich den damals bei Microsoft hatte. Ganz anders als bei Global Clean Energy, denn der ETF ist gnadenlos-ekelhaft abgestürzt. Leider macht es Spaß, Aktien nachzukaufen. Das senkt nämlich den Buy-in und genau daran habe ich Gefallen gefunden. Obwohl man die ganze Zeit weiter Geld in ein Unternehmen investiert, das bereits gezeigt hat, dass es das falsche Pferd ist. Muss man aber auch. Warren Buffet sagt schließlich, dass mich die Zeit, in der ich nicht am Markt bin, teurer zu stehen kommt als die Zeit, in der ich Verlust mache. Oder so ähnlich. Kann ja eigentlich gar nicht stimmen?
Gelernt habe ich auch, dass Aktien aus Kanada mich am Arsch lecken können, da mir sowohl Eat Beyond, Halo Collective als auch Consolidated Uranium krachend abgeschmiert sind. Dreckscheiße. Das ist allerdings auch eine Wahrheit. Kauft man was, das abstürzt, flucht man. Kauft man was, das steigt, flucht man – hätte man mehr von kaufen sollen. Glücklich ist man offenbar nie. Dabei war das mein ursprünglicher Ansatz. Das wenige Geld nicht verschimmeln lassen, sondern es gewissermaßen in die Welt schmeißen, damit es mehr wird. Jetzt fühlt sich alles an wie Glücksspiel. Wie eine Sucht. Und reich und fett werde ich so sicher nicht. (01.2022)