Ich habe Heavy Rain innerhalb von nur 24 Stunden durchgespielt. Sowas passiert mir sonst eigentlich nicht. Ich brauche meist ein wenig länger, um mich an die Spielmechanik zu gewöhnen und mich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Heavy Rain lässt das jedoch gar nicht zu. Man kann nicht mehr damit aufhören. Die Atmosphäre ist zu dicht, der Plot zu spannend. Und nachdem der Abspann über den Schirm gelaufen ist, war ich nicht mal mehr sicher, ob ich ein Spiel gespielt oder einen Film angesehen habe.
Das Meisterwerk von Quantic Dream ist kein normales Videospiel, es setzt neue Maßstäbe in Sachen interaktiver Unterhaltung und mischt ganz bewusst Film und Spiel zu einem packenden Thriller neu zusammen. Im Grunde genommen geht es bei Heavy Rain um die Jagd nach dem Origami-Killer. Mag simpel klingen, ist es aber ganz und gar nicht. Erstes Stilmittel der Entwickler ist das Fehlen einer Hauptfigur. Stattdessen kontrolliert ihr diverse Protagonisten, die alle eine Art Hauptrolle haben. Vorstellen darf man sich das hier aber nicht wie in einem Ego-Shooter, wo man einfach nur mit einem anderen Namen angesprochen wird, nein, hier hat jede Figur eine eigene Geschichte, eigene Beweggründe, eigene Gefühle. Heavy Rain ist nah dran an der Realität und wirkt nicht erfunden oder aufgesetzt. Hier ist man Jäger und Gejagter, Zuschauer und Akteur zugleich – und hat nicht die geringste Chance, nicht vollends von der Story aufgesaugt zu werden. Jede eurer Entscheidungen hat Konsequenzen, manchmal direkt, manchmal erst im weiteren Spielverlauf. Um zu wissen, wie man agieren muss, braucht man eigentlich nur auf sein Bauchgefühl hören, kann sich aber auch jederzeit die Gedanken der Protagonisten anhören. Ein cleverer Schachzug, der ideal ins Spiel passt.
Heavy Rain beginnt sanft und langsam. Das liegt daran, dass man es völlig anders spielt als gewöhnliche Spiele. Euer bester Freund ist der rechte Analogstick, da man mit ihm nahezu alle Bewegungen ausführt. Wie bereits erwähnt, ist der Titel recht realistisch und möchte dementsprechend viele Aktionen von euch sehen: Wer ins Bad geht, um zu pinkeln, der muss erst das Licht anschalten, sich dann erleichtern, abziehen, Hände waschen und erst dann ist das Vorhaben abgeschlossen. Dabei ahmen eure Bewegungen mit dem Stick die Bewegungen der Figur nach, jedenfalls im gröbsten Sinn. Der Stick alleine reicht aber nicht. Komplexe Bewegungsabläufe werden mit schnellem Drücken einer bestimmten Taste eingeleitet, es gibt spezielle Manöver, die extra langsam ausgeführt werden müssen, Haltebewegungen oder klassische Quick-Time-Events. Alles mischt sich, überrascht euch, passt aber auch immer zu dem, was auf dem Schirm passiert. Heavy Rain ist deshalb wesentlich weniger Spiel als gewohnt und verbindet nahtlos eure Aktionen mit den zahllosen Zwischensequenzen. Der stetige Wechsel dieser beiden Elemente treibt den Plot vorwärts. Man ist stellenweise mehr Zuschauer denn Spieler, was einem aber erst danach richtig bewusst wird. Das Pad weglegen und entspannen ist nämlich keine Alternative, dazu kann einfach zuviel passieren. Und wer es falsch macht, der hat mitunter ein Problem: Quantic Dream hat kein Kinderspiel entwickelt. Die Thematik ist ernst. Selten hat man ein so reifes und erwachsenes Spiel in der Konsole – obwohl weder Blut fließt, noch Körperteile abgerissen werden. Es ist diese unglaublich ausgereifte Atmosphäre, das simple und zugleich hochspannende Gameplay und die tolle Haupthandlung. Thematisiert werden Tod, Gewalt, die Zerrissenheit des menschlichen Selbst und wer nicht aufpasst oder über sein Handeln nachdenkt, der kann sogar sterben. Continues oder Checkpoints gibt es jedoch nicht (im klassischen Sinne).
Klingt innovativ und frisch, ist es auch. Neuland für Quantic Dream ist es hingegen nicht. Der direkte Vorgänger, Fahrenheit, kam in der Presse schon damals sehr gut weg, allerdings ist Heavy Rain in allen Belangen durchdachter und feiner. Logischerweise vor allem technisch. Obwohl die Grafik einige Schwächen hat, was man z. B. an den Händen oder einigen Texturen sieht, dachte ich stellenweise eine DVD würde laufen. Da wird man plötzlich von Details überrascht, von grandiosen Umgebungen und lebensechten Protagonisten. Man kann den Charakteren die Emotionen einfach aus dem Gesicht ablesen, ohne viele Worte. Toll ist auch der Regen und die generell düstere, fast schon morbide Stimmung. Saftige Wiesen oder blauen Himmel sucht man vergebens. Heavy Rain ist außerdem eines der wenigen Spiele, die man völlig problemlos auf Deutsch genießen kann. Die Dialoge sind ausgezeichnet eingesprochen und werden hochqualitativ vorgetragen. Filmreif.
Wie ihr lest, bin ich wirklich, wirklich angetan. Nicht jeder wird Heavy Rain lieben, dafür ist es zu einzigartig, zu anders, eventuell zu wenig interaktiv. Ich hingegen habe schnell eine Bindung zu den Figuren aufgebaut, fand es unglaublich spannend der Handlung zu folgen und bin nach wie vor begeistert ob der realistischen Präsentation der emotionalen Geschichte. Den Killer zu schnappen war in den eingangs erwähnten 24 Stunden das Einzige, an das ich denken konnte. Ja, Luft nach oben ist vorhanden, aber ich wurde vollständig ans Gamepad gefesselt. Ein visionärer Thriller, für den es sich lohnt über den Tellerrand hinauszuschauen. In meinen Augen ein Must-have.
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Genre: Sonstiges
Entwickler: Quantic Dream
Publisher: Sony Computer Entertainment
Release: Februar 2010
getestet: November 2010 // PlayStation 3 // pal deutsch