Meinen Helm habe ich abgenommen. Hier brauche ich ihn nicht. Kühler Wind weht mir durchs Haar. Durchatmen. Nachdenklich betrachte ich die Mauer, die vor mir scheinbar endlos in den Himmel ragt. Dieser gigantische Wall aus Stahl, zum Schutze der Menschheit errichtet, der immer weiter verrottet. Hier hat alles angefangen, im Kosmodrom auf der Erde. Wo nur noch wenige Gebäude stehen, die tapfer dem Staub und Verfall trotzen. Relikte der Vergangenheit, des Goldenen Zeitalters, in denen man manchmal Schätze findet. Oder den Tod. Sieben Jahre ist es her, dass mein Geist mich genau hier wiederbelebt hat und mich zum Hüter machte. Vor sieben Jahren wurde ich zum Pionier und Entdecker, einem Krieger für das Licht. Die letzte Verteidigungslinie gegen die Dunkelheit.
Seitdem sind knapp 3.200 Spielstunden ins Land gezogen, in denen meine drei Hüter und ich fantastische Dinge erlebt haben. Unbeschreibliche Dinge. Ich erinnere mich gerne an die Anfänge von Destiny, als alles neu und exotisch war. Als man nicht wusste, wohin die Reise geht. Eine Zeit, in der jedes Gefecht ein Highlight war, jede Höhle ein Geheimgang hätte sein können. Jene Tage sind lange vorüber. Wie ein Abenteurer fühle ich mich nur noch selten. Eile ist geboten, weil die To-do-Liste angewachsen ist. Man rennt bloß noch durch die einst glamourösen Strikes. Wo keine Belohnung wartet, wird auch nicht gekämpft. Mein Fireteam, eine mutige und fleißige Truppe, ist verschollen. Deshalb spiele ich viel allein und stoße damit immer wieder an meine Grenzen. Ganz davon abgesehen gibt es mittlerweile Aufgaben, die wie maßgeschneidert nur noch für Streamer und Pro-Gamer funktionieren, nicht für mich. Das schmerzt.
Destiny ist das erste Spiel, das mit mir einen Generationswechsel mitmachen durfte. Pünktlich zum Release der Xbox Series X ging mit Beyond Light die nächste große Erweiterung an den Start. Ein Ersatz für den dritten Teil, den es vorerst nicht geben wird. Seit der Trennung von Publisher Activision geht Entwickler Bungie einen anderen Weg. Setzt auf sich verändernde Seasons, was Ressourcen schont und das Spiel frisch halten soll. Neu ist außerdem, dass Dinge nun mit einem Haltbarkeitsdatum versehen werden (können), damit der Ego-Shooter nicht ewig weiterwächst. Ganze Planeten werden entfernt und landen auf unbestimmte Zeit in einem digitalen Tresor. Nennt sich Sunsetting und erscheint mir nicht falsch. Vielerorts gab es einfach nichts mehr zu sehen. Doch stirbt damit auch der Traum vom großen Destiny? Die perfekte Balance wird Bungie wohl niemals finden können. Dafür hat man allerdings einen üppigen Patch ausgerollt, der wiederum überzeugender nicht hätte sein können. So wurde u. a. die Framerate des Spiels angepasst, was nebensächlich scheint, aber tatsächlich gleicht es einem Quantensprung. Ich bin vollkommen überwältigt davon, wie neu, frisch, rasant und elegant sich der Ego-Shooter auf einmal anfühlt. 60 FPS. Pure Magie. Dazu gesellt sich das zurückgekehrte Kosmodrom und ganz neu mit dabei ist Europa, ein vereister Mond des Jupiter. Für mich zu viel des Guten: Mein ursprünglicher Plan, D2 ad acta zu legen, ist erneut glorreich gescheitert.
Seit dem ersten Tag bin ich dabei und würde logischerweise vieles anders machen. Das Recycling muss endlich aufhören, die Verschlimmbesserungen dürfen sich zurückhalten und wie wäre es mit weiteren Matchmaking-Optionen und mehr Waffen und Rüstungen? Laut meckernde Veteranen (wie ich) sind aber im Herzen die größten Liebhaber des Spiels. Destiny ist und bleibt ein Meisterwerk und Meilenstein, ist vom Exoten zum Vorbild geworden. Konkurrenten scheitern regelmäßig an ähnlichen Konzepten, während Destiny oft nicht viel tun muss, um wieder von sich Reden zu machen. Eine imposante neue Waffe vielleicht, ein merkwürdiger Story-Schnipsel oder nur mal wieder einer dieser unnachahmlichen Trailer. Hat man angebissen, verfällt man schnell der großartigen Kombination aus Spielbarkeit und Design. Das feine Gespür für Größe, die Architektur, der Stil. Exotische Rüstungen, detaillierte Charakterentwicklung. Die komplexe Verknüpfung von Waffen, Mods, Shadern, Perks, gewaltigen Endbossen, fordernden Missionen, Teamplay, weitläufigen Schlachten mit mehreren Hütern oder hitzigen Feuergefechten auf engstem Raum. Brillant. Immer wieder scheint mir der Grind ermüdend, am Ende verfalle ich ihm doch. Sich verbessern, geheimen Objekten nachjagen, Dinge abarbeiten und währenddessen seine ganz eigene Symbiose finden. Eine echte Lebensaufgabe. Das alles bei nahtlosem Wechsel aus Einzel- und Mehrspieler, so gut wie ohne Ladezeiten und in einem faszinierenden Universum mit interessanten Figuren angesiedelt. D2 ist darüber hinaus noch immer ein wunderschönes Spiel, überragend vertont und fast überall spürt man die Liebe zum Detail.
Wir haben viel durchgemacht, das Ego-Shooter-RPG und ich. D2 bringt mich regelmäßig auf die Palme, manchmal habe ich sogar komplett die Schnauze voll. Doch dann kommt es mit einem Strauß Blumen um die Ecke, in Form eines neuen Spurgewehrs zum Beispiel, und schon bin ich wieder an Bord. Dann betrachte ich stundenlang meine drei Hüter, bewundere die Waffen mit ihren Geschichten, Farben, Formen und den einzigartigen Feuermechanismen. Ich schiebe in der App meine Ausrüstung hin und her, lese mich quer durch alle Foren, um M.e.t.a.-Waffen und God Rolls ausfindig zu machen, plane Loadouts und hake ein Ziel nach dem anderen ab. Eine Mischung aus Leidenschaft und Wahnsinn. Zu verführerisch ist das Gefühl der Macht, zu immersiv die gewagte Mischung aus Sci-Fi, Western, Fantasy und ein bisschen Horror. Zielsuchende Raketen, tobende Schrotflinten, verfluchte Kampfbögen, flammende Schwerter, Kuppeln aus Licht, unbarmherzige Laser, hämmernde Maschinengewehre und Granaten aus purer Energie. Ich marschiere mit tödlichen Faustschlägen durch die Reihen meiner Gegner, verdrehe die Gesetze der Physik oder verschwinde im Nichts. Unvergleichlich, aller Kritik zum Trotze. Destiny ist ein Strudel, ein Magnet, spielerische Oberklasse. Mysterium und Wunder, Albtraum und Paradies.
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Genre: Ego-Shooter / RPG
Entwickler: Bungie
Publisher: Bungie
Release: September 2017
getestet: August 2021 // Xbox Series X // digital // Englisch // Limited Edition