Leergefegte Korridore. Dokumente liegen auf dem Boden verstreut, die Schreibtische sind verlassen. In der Ferne dröhnt ein schriller Alarm aus einem der Kontrollräume. Kaffeetassen stehen noch herum, Radios laufen. Doch kein Mensch ist zu sehen. Lockdown. Eine gespenstische Atmosphäre macht sich in dem gigantischen Bürogebäude breit. Nackter Beton, hohe Decken, Brutalismus in Reinform. Es wirkt furchteinflößend und kalt. Man fühlt sich beobachtet, wie ein Fremdkörper – und doch ein bisschen wie zu Hause. Ein Schuss reißt mich und die Protagonistin gleichermaßen aus der Trance. Das Büro des Direktors! Und als Jesse den Revolver, mit dem Direktor Zachariah Trench sich das Leben genommen hat, aus seinen toten Händen nimmt, hat sie gewollt und ungewollt einen Pakt geschlossen.
Die Service Weapon ist mehr als eine normale Waffe, ein Link zur Astral Plane und dem sogenannten Board, das euch quasi im nächsten Atemzug zur neuen Direktorin macht. Des Federal Bureau of Control, zu dem Jesse Faden eine ganz besondere Verbindung hat. Wie ein Gefühl, wenn man so will. Etwas desorientiert und dennoch bestimmt, nimmt sie ihre Aufgabe an: die Vertreibung der Hiss. Eine fremdartige Bedrohung, die sich Zugang zu unserer Welt verschafft und das FBC kontaminiert hat. Genau deshalb ist das Gebäude abgeriegelt. Die Ausbreitung der Hiss muss um jeden Preis verhindert werden.
Ein durchaus intensiver erster Arbeitstag, zumal Jesse nur nach und nach versteht, was hier wirklich vorgeht. Während sie an Projektoren, Rohrpostsystemen, Großraumbüros und Panic Rooms vorbeiläuft, sieht sie Menschen hilflos an der Decke schweben, scheinbar besessen, regungslos und verloren. Immer wieder tauchen Hiss wie aus dem Nichts auf, die sich die Körper der Mitarbeiter angeeignet haben, und müssen mit Hilfe der Service Weapon niedergestreckt werden. Die unübersichtlich langen Flure enden häufig abrupt, irgendwas stimmt mit Licht und Perspektive nicht. Der Koloss aus Beton lebt, nennt sich the Oldest House. Ein Ort, der sich verändern kann, der gebändigt werden muss, verwundet und verletzt wirkt, bizarr und ein bisschen eklig. Er verbindet Vertrautes und Übernatürliches, ist bieder und magisch zugleich. Obwohl sie scheinbar auf sich allein gestellt ist, gelingt es Jesse Verbündete zu finden, die sich mit sogenannten HRAs vor dem Eindringen der Hiss in ihre Psyche schützen konnten. Die hilfsbereite Emily Pope beispielsweise, die mit Klemmbrett und einigem Hintergrundwissen etwas mehr Licht ins Dunkel bringt. Sie erklärt euch, zumindest grob, was die Hiss sein könnten, was hinter einem AWE steckt oder worum es sich bei einem sogenannten Object of Power handelt – und wie das alles mit den Forschungsarbeiten von Dr. Darling zusammenhängt.
Control ist kein normaler 3rd-Person-Shooter und tritt damit in die Fußstapfen anderer Remedy-Spiele. Die waren schon immer ein bisschen besonderer, was allen voran an der Erzähltechnik und der dadurch geschaffenen Stimmung liegt. Als Spieler folgt und erlebt man die Gedanken und Gefühle der Hauptfigur sehr direkt, schlüpft quasi in Jesses Kopf, und ist somit (nahezu) komplett auf gleichem Stand wie sie. Hinzu kommt eine Art gewollte Verwirrung, also viele Fragen und wenige Antworten, die den Spieler weichklopft und empfänglich für das Dargebotene macht. In diesem Fall für die brillante Mischung aus sauberen Fluren, kühlem Brutalismus und paranormalen Phänomenen, was überragend gut gelungen ist. Ein bisschen Akte-X, ein bisschen Quantum Break, viel Action und ein äußerst clever gestrickter Spannungsbogen.
Das Gameplay ist nicht ganz so exotisch, von Bodenständigkeit aber ebenfalls weit entfernt. Jesse bedient die Service Weapon konsequent und ruchlos, die Schusswechsel fühlen sich kraftvoll, geradlinig und direkt an. Nachladen muss man die Waffe nicht, Munition wird automatisch generiert und jeweils zwei Feuermodi stehen euch zur Verfügung. Auf gänzlich neue Waffen muss man indes verzichten, stattdessen ahmt die Service Weapon andere Waffen nach, entsprechend gibt es Schrotflinte, Maschinenpistole und Co. also dennoch. Und außerdem gibt es ja noch völlig andere Mittel und Wege: Jesse lernt, wie sie die Kräfte der Objects of Power kanalisieren kann und schon früh im Spiel bekommen die Feuergefechte eine ganz andere Dynamik. Wenn Jesse mit telekinetischen Fähigkeiten Steine aus massiven Mauern herausreißt und sich damit vor Angriffen schützt, Stühle und Feuerlöscher zu tödlichen Wurfgeschossen werden oder ihr mit gewaltigen Nahkampfangriffen eure Widersacher und die Umgebung zerstört. Eure übernatürlichen Kräfte stehen dem Actionspiel ausgezeichnet zu Gesicht und sind nicht nur bildschön in Szene gesetzt, sondern auch wuchtig und kompromisslos. Remedy hat das Spiel übrigens nicht überladen, sondern verleiht ihm eine gewisse Art von Glaubwürdigkeit. Der Skilltree ist beispielsweise recht übersichtlich gehalten, aber offenbart beim genaueren Betrachten etliche Feinheiten. Nichtsdestoweniger fühlte ich mich zum Ende des Spiels wie eine unbezwingbare Übermacht.
Womöglich ist das einer der Gründe, warum Control unglaublich stark startet, zur Spielmitte mit Mysterien und Absurditäten immersiv und motivierend bleibt, jedoch zum Finale hin ein wenig abflacht. Die Angst ist weg, die Fragezeichen werden weniger. Das ändert jedoch nichts an der Bestnote, die der 3rd-Person-Shooter seinem Setting, der Atmosphäre und der großartigen Schauspielkunst zu verdanken hat (ja, kurze Videos mit echten Schauspielern sind auch wieder mit an Bord). Die Räder greifen ineinander, die interessanten Figuren und Schauplätze ziehen mich in ihren Bann und machen Control zu einem wunderbaren Ballett der Missordnung. Von Anfang bis Ende bestaunt man als Spieler die faszinierende Ästhetik, erfreut sich am Unwirklichen, euren Fähigkeiten und einer gewissen Prise Dramatik. Eindeutige Empfehlung!
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Genre: Action-Adventure
Entwickler: Remedy Entertainment
Publisher: 505 Games
Release: Oktober 2020
getestet: Juli 2023 // Xbox Series X // digital // Englisch