Cyberpunk 2077


„You either burn alive or you never existed at all.“


Akira, Blade Runner, Matrix, Snow Crash, Only Forward. Meisterwerke eines Subgenres der Science-Fiction, das auch mich immer und immer wieder zu begeistern weiß und mit seinen düsteren, dystopischen Ansätzen anzieht wie ein Magnet. Cyberpunk. Folglich sollte 2077 meine persönliche Offenbarung werden, was ich nach mittlerweile über 90 unfassbaren Spielstunden in Night City bestätigen kann.

Die Metropole ist der Inbegriff eines Molochs, eine schreiend laute Großstadthölle. Ein dreckiger Neon-Albtraum mit Netrunnern, Cyberpsychos und Joytoys. Ein Sumpf aus Waffen, Drogen und Geld. Die perfekte Anti-Utopie, ein perverses, atemberaubendes, grellbunt-brutales Paradies. Zugemüllt, entmenschlicht und so voll mit Werbung, dass man daran zu ersticken droht. Eine Welt, in der Mega-Konzerne das Sagen haben, gigantische Wohnkomplexe in den Himmel ragen, Gangs unbehelligt durch die Straßen ziehen und die kargen Vororte immer weiter verstauben und den Anschluss verlieren. Zum Fürchten düster und kalt, dann wieder wunderschön, einzigartig, anonym und futuristisch. Die große Freiheit. Ich kann meinen Körper mit Hilfe von modernster Technik verändern, in digitale Welten flüchten und unverblümt konsumieren, was auch immer ich möchte, sein, wer immer ich will. Doch alles hat seinen Preis.



Umso wichtiger ist es, Stärke zu zeigen. Ich bin V. Eine Söldnerin, die sich in einem Netzwerk aus zwielichtigen Kontakten gleichermaßen auffällig wie dezent durch die Straßen bewegt. Ich arbeite für die besten Fixer von Night City, die mir immer wieder neue Aufgaben zuspielen: Diebstahl, Betrug, Mord, ich befreie Zielpersonen, schlichte Streitigkeiten. Von Fall zu Fall entscheide ich neu, ob ich helfe. Mal versuche ich ungesehen an Daten zu kommen, schleiche mich durch Hintereingänge in Nachtclubs, schalte Kameras aus und bin verschwunden, ohne dass mich jemand gesehen hat. Doch das gelingt nicht immer. Laufe ich Gefahr entdeckt zu werden, hacke ich nicht nur die Systeme, sondern spiele meinen Widersachern Viren ins System, überlade ihre Technik. Richtige Netrunner stehen ihrem Feind niemals Auge in Auge gegenüber. Sie manipulieren die Umgebung, vom Getränkeautomaten bis zum Geschützturm, aber eben auch den Feind. Meine Fähigkeiten sind begrenzt, muss ich zugeben, denn ich habe mich für einen anderen Weg entschieden, direkter, präsenter, brutaler. Mein Ripperdoc hat mir Mantis-Klingen eingesetzt, widerlich-tödliche Nahkampfwaffen, die wie von Geisterhand aus meinen Unterarmen hervorschnellen und dank verschiedener Motoren unerbittlich zuschlagen. Ich habe mir aber auch einen Smartlink implantiert, mit dessen Hilfe ich intelligente Waffen bedienen kann. Zielen muss man jetzt kaum noch. Wer Angst vor Nadeln hat und die Docs lieber meidet, kommt natürlich auch an konventionelle Maschinenpistolen, Schrotflinten oder Granaten, die es ebenfalls in sich haben.

Über den gelungenen Skilltree kann man seine Vorlieben perfektionieren. Strebt ihr nach körperlicher Überlegenheit? Wollt ihr eure Ausrüstung selbst craften, möglichst als Phantom durch die Schatten huschen oder als Revolverheld gefeiert werden? Für jedes Talent gibt es passende Perks, die beeindruckende Boni bereithalten und somit euren Spielstil maßgeblich verändern können. Großartig. So großartig, dass man am liebsten alles beherrschen möchte. Bei mir z. B. hat es viele Stunden gedauert, bis ich das volle Potential meines Cyberdecks erkannt habe. War ich zuvor im Nahkampf unschlagbar, habe ich später meine Feinde vornehmlich aus sicherer Entfernung vergiftet oder sogar in den Selbstmord getrieben. Leider kann man nicht alles haben. Die Charakterentwicklung ist variabel, interessant, motivierend, aber irgendwann muss man (sinnvollerweise) Prioritäten setzen, denn der Flexibilität sind Grenzen gesetzt.



Nicht nur das Menü begeistert, sondern insbesondere die Atmosphäre, das Setting. Absurd, roh, erbarmungslos, vulgär, sexuell aufgeladen. Wahnsinn. Ich bin Feuer und Flamme. Ich häufe Geld an, kaufe mir neue Autos und Apartments, sammle, verkaufe, morde, jage und hacke. Zwischendurch arbeite ich für die Polizei, selten für Privatleute, meist für die genannten Fixer. Die können sich genau so sehr auf mich verlassen wie meine Freunde. Denn auch wenn Cyberpunk verstörend-grau und niederschmetternd-kompromisslos ist, gibt es Menschen, denen ich vertraue. Und die mir vertrauen. Braindance-Profi Judy, Panam aus den Badlands oder River, dem gefallenen Cop. Zahlreiche Dialoge, Anrufe und Textnachrichten machen eure Interaktionen lebendig und dynamisch, emotional. Hilfe braucht V ebenfalls. Das Spiel verurteilt euch schon zu Beginn zum Tode. Der misslungene Diebstahl eines verseuchten Biochips brennt euch das Engramm eines lange verstorbenen Rockstarts und Terroristen auf die Platine. Johnny Silverhand ist ziemlich präsent und verdrängt Vs Bewusstsein Stück für Stück immer weiter. Die Story ist unglaublich packend, dramatisch und frisch, intensiv und abgedreht. Tolle Charaktere, ein brillanter Keanu Reaves, zahllose Schicksale und Wendepunkte, durch eure eigenen Entscheidungen vorangetrieben. Eine Achterbahnfahrt.

Cyberpunk 2077 ist das, was ich mir gewünscht hatte. Zumindest fast. Etwas viel wollte man bei RED, denn es gibt zwar eine spektakuläre Stadt, haufenweise Läden, Restaurants und Bars – aber vieles verkommt rasch zu einer Art Kulisse. Türen bleiben ewiglich verschlossen, NPCs reden nur Unsinn, Geheimnisse sind rar. Kinderkrankheiten durchziehen das Spiel und bis zum magischen Patch (über ein Jahr nach Release) war es auf der Series X zwar spielbar, aber kein Genuss. Ein holpriger Start, verbunden mit schlechter PR, einem Aktiensturz und massenhaft Retouren. Und auch davon abgesehen hätte 2077 durchaus noch mehr sein können, denn Night City ist als Gedanke quasi perfekt. Aber eben nur als Gedanke.

Sei es drum. Das Ego-Shooter-RPG ist eine Offenbarung für Augen und Ohren, umfangreich und komplex, zieht euch tief in den Strudel der turbulenten Mega-Metropole, in der ich auch nach Tagen immer wieder neue Straßenzüge entdecke oder anhalte, um einfach nur die Stimmung aufzusaugen. Ich suche nach neuen, abgefahrenen Waffen, bringe mein Outfit in Ordnung, verkaufe überflüssigen Ballast und fahre durch die Gegend. Ein wuchtiges, krasses Spiel, das mich lange über den Abspann hinaus beschäftigt hat.


★★★★★★     (sehr gut)

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Genre: Ego-Shooter / RPG
Entwickler: CD Projekt RED
Publisher: CD Projekt

Release: Dezember 2020
getestet: März 2022 // Xbox Series X // digital // Englisch