Ich war bislang davon ausgegangen, dass Polen mir insbesondere mit Belvedere Vodka und feinen Wurstspezialitäten imponieren würde. Doch ich lag falsch. Aus Polen kommt tatsächlich eines der besten Videospiele aller Zeiten, das ich gerade erst für mich entdeckt habe. The Witcher. Die Bücher habe ich nicht gelesen, Teil 1 und Teil 2 auf PC und Konsole verschmäht, aber trotzdem eine Menge Geld für die Limited Edition von Teil 3 hingeblättert. Mit dem Ergebnis, dass ich mich einerseits gleich mehrfach neu verliebt habe und andererseits gerne selbst als Hexer durch die Welt ziehen würde. Geralt von Riva heißt mein neues Vorbild, zugleich gefürchtet und verehrt. Eine Art Fantasy-Cowboy in einer kompromisslos-schroffen Welt. Mit wallendem Haar galoppiert er auf seinem treuen Pferd durch wunderschöne Landschaften, macht Halt in Dörfern, trinkt, spielt, liebt und erledigt für bare Münze die widernatürlichsten Unholde. Verdammt. Ich würde zugern ebenfalls Tränke brauen, meine Klingen ölen, Zeichen wirken oder meinen Gegenüber elegant in zwei Hälften schneiden. Na. Ich bin jung, umschulen geht sicher jederzeit.
Einen kleinen Wermutstropfen hat das Leben als Hexer: Es stumpft ab, dämpft die Empfindungen. Dabei ist the Witcher ein ziemlich emotionales Spiel. Komplizierte Verstrickungen im menschlichen Miteinander gibt es zu Hauf. Der Plot ist reif und erwachsen, thematisiert Dinge wie Rassismus, Treue und Krieg. Es gibt große, übergeordnete Konflikte, die eine Rahmenhandlung vorgeben, allerdings auch jede Menge kleinere Probleme und Aufgaben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Spielen kann man hier aber nicht jeden glücklich machen und oft denkt man lange über die richtige Entscheidung nach. Wie es sich für ein RPG gehört, haben jene Entscheidungen oftmals dramatische Konsequenzen, die sich mitunter erst nach vielen Stunden bemerkbar machen. Geralts eigentliche Mission ist die Suche nach seinem Mündel Ciri. Trotz seiner geschärften Instinkte verliert er immer wieder ihre Spur und muss deshalb diverse Orte bereisen und Menschen und Geschöpfe nach ihr befragen. Diese wollen wiederum die Dienstleistungen des Hexers nutzen, bevor sie verraten, was sie wissen. Kein Wunder. Geralt ist eine wahre Legende. Er bricht Flüche, reinigt von Monstern besetzte Landstriche und stellt sich im blutigen Kampf jeder Bedrohung in den Weg. Viele jener Missionen sind eigentlich Sidequests, die aber so hervorragend inszeniert sind und obendrein eine bemerkenswerte Komplexität mit sich bringen, dass man sich völlig darin verlieren kann. Das tolle Menü hilft euch den Kurs zu halten und bietet abseits davon auch noch eine Karte, euer Inventar und eine Übersicht zu Geralts Fähigkeiten. Das wirkte auf mich zunächst sehr simpel, offenbarte dann aber ungeahnten Tiefgang. Denn auch im Charakterbaum ist es nicht möglich sich für alles zu entscheiden und eine magische Kampfmaschine zu erschaffen. Wer den Schwertkampf ausbauen will, tut dies beispielsweise auf Kosten der Alchemie oder Zauberei. Mit Hilfe von Mutagenen wird das System weiter verfeinert und von Ölen, Tränken und eurer Kampfausrüstung schließlich abgerundet.
Als High-End-Hexer ist Geralt immer mit zwei Klingen unterwegs, eine gegen Menschen, eine gegen Monster, und im Kampf auf gut getimte Paraden und gekonnte Gegenstöße angewiesen. Die richtige Würze verleihen den Echtzeit-Schlachten dann eure magischen Fähigkeiten, die u. a. Flammenschäden oder kinetische Stöße möglich machen, ebenso wie die beliebte Hypnose. Schwert und Zauber lassen sich flüssig miteinander verbinden, um auch gegen mehrere Gegner die Überhand zu gewinnen. Die Feinde sind stark und ausdauernd, was vor allem die Vorbereitung auf ein Gefecht in den Fokus rückt: Waffenöle gegen ganz bestimmte Widersacher oder leistungssteigernde Tränke können durchaus kampfentscheidend sein. In seiner Vielfalt und Liebe zum Detail hat mich das Bestiarium ziemlich überrascht. The Witcher bringt euch Greife, Trolle, Wasserweiber, Vampire, Golems, barbusige Sukkubi und mehr. Erfreulich, dass CD Projekt RED in den Kämpfen die richtige Mischung aus roher Gewalt und taktischer Disziplin findet.
Wild Hunt ist ein völlig offenes Spiel und erlaubt euch zu jeder Zeit an jeden Ort zu reisen – mit entsprechenden Konsequenzen. Zwar gibt es eine Schnellreise-Option, aber wer die Landschaft genießen will, geheime Orte aufspüren möchte, nach Hexeraufträgen sucht oder Banditenlager überfallen will, erkundet Novigrad am besten zu Pferde. Das dauert problemlos zwischen 80 und 150 Stunden, dank toller Geschichte und zahlloser Aufgaben. Während dieser Zeit hat mich der Hexer auf viele Arten berührt: Es gab epische Gefechte, die mich in Rage versetzten, schwerwiegende Entscheidungen, die mich in die Nachdenklichkeit getrieben haben und oft war ich einfach nur begeistert und überwältigt von der Qualität der Dialoge, der Geschichte und dem Missionsdesign. Das RPG ist intelligent, facettenreich, emotional und sogar technisch makellos. Kurze Ladezeiten, dafür aber eine beeindruckende, mystisch-mittelalterliche und lebendige Spielwelt. Darüber hinaus wurde der Titel unglaublich gut ins Deutsche synchronisiert und schafft eine schlicht atemberaubende, dichte und packende Atmosphäre.
Größtes Manko des Spiels ist der relativ knackige Einstieg und leider auch die unnötig hakelige Steuerung. Weder butterweich noch exakt, manchmal sogar im Zusammenspiel mit einer unfairen Kamera. Erstaunlicherweise gewöhnt man sich daran und kommt irgendwann klar, zumal das Problem meist nur in engen Räumlichkeiten auftritt. Dazu kommt, dass euch auch ein Spiel dieser Qualität oft von A nach B schickt, damit ihr einen Gegenstand zu C bringt. Standard, auch bei derart wertigen RPGs. Unterm Strich sorgen die genannten Mängel aufgrund der überwältigenden, mitreißenden Spielerfahrung für keinerlei Punktabzug. Geplant sind übrigens, neben den bereits laufenden gratis DLCs, zwei umfangreiche neue DLCs, die nochmal 30 Stunden auf die Uhr bringen sollen. Ganz gleich ob man die nun kauft oder nicht, Wild Hunt ist ein absolutes Must-have!
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Genre: Action / RPG
Entwickler: CD Projekt RED
Publisher: Bandai Namco Entertainment
Release: Mai 2015
getestet: Juli 2015 // Xbox One // pal deutsch