Fallout 4


The Wanderer


Pip-Boy CE, Digital Deluxe Edition und Ultimate Strategy Guide sei Dank, hat mich der Release von Fallout 4 über 315 € gekostet. Gut investiertes Geld, denn anschließend schiebt man Frau, Freunde und sogar die eigene Mutter bei Seite, damit man sich ganz dem neuesten Werk von Bethesda hingeben kann. Die nächsten Wochen verbringt man seine Zeit in einem postapokalyptischen Paradies, das mit motivierendem Questdesign, feinem Gameplay und massivem Umfang begeistert. Durch das komplett verstrahlte und völlig zerstörte Boston zu wandern, zaubert mir schon beim Gedanken daran ein Lächeln auf die Lippen. In der Haut meines Alter Ego lasse ich Charme und Waffen gleichermaßen sprechen, schüre Intrigen oder helfe sympathischen Siedlern dabei zu überleben. Mit jedem Tag werde ich stärker, jede Mission lehrt mich neue Dinge. Und so schreibe ich meine ganz persönliche, durchaus blutige Geschichte und werde zur Legende des Commonwealth.



Fallout 4 ist eines jener Spiele, die man abends nur schwer abschalten kann. Es gibt immer noch eine Kleinigkeit mehr zu erledigen oder einen neuen Gedanken, den man umsetzen möchte. Der Titel erzeugt einen immensen Sog, der jeden Liebhaber des Szenarios packt und nicht mehr loslässt. Ich finde mich tief in der Nacht und frühmorgens vor meiner Xbox wieder und was um mich herum passiert, nehme ich nur widerwillig zur Kenntnis. Stattdessen klaube ich gierig allen möglichen Schrott zusammen, durchsuche Kisten, Leichen und abgewrackte Häuser. Eifrig melde ich mich bei Bürgermeistern, Aufsehern oder meinetwegen auch der Stählernen Bruderschaft, um brav eine weitere Mission zu erfüllen. Hasserfüllt stürme ich feindliche Lager und stifte mit eigens geschmiedeten Waffen Unheil. Intelligent und belesen gebe ich mich indes bei der Charakterentwicklung: Hier kommt es auf die Wahl der richtigen Perks an, die mich zum Meisterdieb, einem übermächtigen Faustkämpfer, einem unwiderstehlichen Großhändler oder einem glücklichen Dummkopf machen. Überlegen sollte man sich das tatsächlich gut, denn logischerweise ergeben sich daraus zahlreiche spielerische Vor- und Nachteile.

Das undankbare und gefährliche Commonwealth wird vom Spieler per Pedes und aus der Ego-Perspektive erkundet. Häufig mit gezogener Waffe, so dass man das RPG auf den ersten Blick glatt mit einem Ego-Shooter verwechseln könnte. Tatsächlich bedient sich die Serie seit Teil 3 bei der Genre-Konkurrenz – und macht das richtig gut. Zwar kann das Gunplay nicht mit Destiny, Call of Duty oder Halo mithalten, ist aber hervorragend spielbar und punktet mit eigenen Feinheiten und Ideen. Wieder mit an Bord ist entsprechend auch das V.A.T.S., ein Zielsystem, mit dessen Hilfe ihr die Zeit stark verlangsamt und euch die Gegner und deren Schwachstellen exakt ausgucken könnt. Insbesondere auf den höheren Schwierigkeitsgraden ist das V.A.T.S. ein unverzichtbarer Begleiter. Um im Kampf wirklich erfolgreich zu sein, muss man natürlich auch anderen Rahmenbedingungen seine Aufmerksamkeit widmen. An Werkbänken kann man beispielsweise seine Rüstung massiv aufwerten, außerdem lassen sich sämtliche Meinungsverstärker optimieren. Schraubt Schalldämpfer auf Pistolen, konstruiert üppige Trommelmagazine oder Mündungsbremsen und treibt rostige Nägel durch eure Baseballschläger. Im Endeffekt sind Outfit und Bewaffnung völlig individuell gestaltbar und erfüllen dann mitunter verschiedene Funktionen. Im Einklang mit den oben erwähnten Perks wird man zu einem Nah- oder Fernkämpfer, eventuell aber auch zu jemandem, der leidenschaftlich gerne Raketen und Mini-Atombomben durch die Gegend feuert. Wie ihr die Gefechte also beendet ist euch überlassen, blutig wird es auf jeden Fall.



Jedoch: Ich bin ein großherziger und friedliebender Wanderer. Sofern möglich, trage ich mein charismatisches Ego offen zur Schau und löse viele Auseinandersetzungen ohne den Einsatz von Schusswaffen. Die unterhaltsame Interaktion mit den Figuren ist mir nämlich wichtig und man lernt dabei viele interessante Menschen, Orte und Geschichten kennen. Daraus ergeben sich immer neue Aufgaben und Missionen, um die ich mich hingebungsvoll kümmere. Belohnt wird man nicht nur mit Kronkorken, Erfahrungspunkten oder seltenen Waffen, sondern auch mit dramatischen Schicksalen, faszinierenden Schauplätzen und unglaublich intensiver Atmosphäre. Ich finde sie einfach unwiderstehlich, die erregende Mischung aus nuklearer Katastrophe, fortgeschrittener Robotik und 60er-Jahre Retro-Flair. Durch gewaltige Bunkerkomplexe zu marschieren oder mit meinem Hund durch die zerbombte Innenstadt zu schlendern, ist einfach großartig. Gelegentlich bleibt man einfach stehen und bestaunt die Kreativität der Entwickler und den damit verbundenen Detailreichtum. Das Spiel sieht über weite Strecken absolut großartig aus und wer sich hier und da die Zeit nimmt, der erkennt die Schönheit im Untergang der Welt.

Leider haben Spiele dieser Größe immer auch eine Schattenseite, die selbst Bethesda nicht gänzlich erleuchten konnte. Wer nämlich eher durch das Spiel rennt und hetzt, der merkt, wie die Grafik von einem leichten Schluckauf in heftiges Ruckeln verfällt. Dazu kommen andere Bugs, wie der große Kronkorken-Betrug oder der verwirrende Moralbalken in eurer Siedlung. Auch euer Sidekick, so spaßig es mitunter im Bett mit ihm ist, steht hier und da mitten im Weg herum und lässt euch nicht vorbei. Nimmt man jetzt noch die fehlende Innovation, die nicht gigantisch große Karte und die langen Ladezeiten mit dazu, dürfte sich Herr Geralt von Riva durchaus ins Fäustchen lachen. Nicht, dass die angeführten Dinge Fallout 4 in irgendeiner Form seiner Magie beraubten, aber Optimierungsbedarf ist erkennbar. Doch ganz gleich ob Bethesda weiter an der Performance schraubt, mein Fazit stand schon nach wenigen Stunden fest: Ein Spiel mit einer solchen Wucht und Präsenz, mit einer derart magnetischen Wirkung, hat selbstverständlich die Bestnote verdient. Es ist ein Erlebnis, eine Erfahrung, hervorragend inszeniert und obwohl ich bereits seit weit mehr als drei Tagen durch das Ödland wandere, ist kein Ende in Sicht.


★★★★★★     (sehr gut)

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Genre: Ego-Shooter / RPG
Entwickler: Bethesda Game Studios
Publisher: Bethesda Softworks

Release: November 2015
getestet: Dezember 2015 // Xbox One // digital // Englisch