Destiny 2


Entropie ist unvermeidlich


Aufopferung, Liebe, Hass – es sind starke Gefühle, die Destiny bei mir auf den Plan ruft. Genau das ist der Grund, warum ich mir über 1.300 Spielstunden Zeit genommen habe, eins mit diesem Universum zu werden. Der verführerische Sog aus makelloser Spielbarkeit, einer lebendigen Community und überragendem Leveldesign hat mich erfasst und durchgewirbelt, hat mich Termine verschieben und Freunden absagen lassen. Seit einer ganzen Weile bin ich jetzt im zweiten Teil von Destiny unterwegs. Wieder wandere ich auf dem Pfad des Entdeckers, erschließe als Pionier fremde Welten, plündere, sammle und trete der Dunkelheit in den schwarzen Arsch.

Doch der Start war holprig. Man hat sich für einen totalen Reset entschieden. Alles, was ich mir seit 2014 erarbeitet hatte, ist mit einem Mal verloren. Waffen, Ausrüstung, Ressourcen – alles weg. Doch merk- und fragwürdige Entscheidungen haben den Ego-Shooter zu dem gemacht, was er heute ist. Wöchentliche Neustarts, zeitbasierte Events, dauerhafte Online-Anbindung und abstruse Missionsstrukturen waren einst exotisch, sind mittlerweile aber zu wichtigen Alleinstellungsmerkmalen von Destiny geworden. Ich habe dies verinnerlicht und liebgewonnen. Trotzdem ist auch die Fortsetzung irgendwie ein Exot geblieben. Nun aber zugänglicher für Neulinge, was gut ist, unglücklicherweise verbunden mit einer massiven Schwächung des Endgames, was schlecht ist. Profis fällt nämlich auf, dass viele der kleinen Stellschrauben, an denen Bungie gedreht hat, haarsträubende Veränderungen nach sich ziehen. Details jedoch, die Normalspieler vermutlich nicht einmal bemerken, weshalb ich hier auch nicht unbedingt darauf eingehen möchte.



Als Dominus Ghaul, Anführer und Kommandant der Rotlegion der Kabale, den Turm angreift, ist es für Gegenmaßnahmen zu spät. Der präzise und eiskalte Schlag gegen die Menschen und den Reisenden gleicht einem Geniestreich. Denn Ghaul hat es auf das Licht der Hüter abgesehen, jener Macht, die euch durchströmt und die euch Kraft verleiht. Es scheint ausweglos. Die letzte Bastion der Menschheit ist gefallen, es herrschen Zerstörung, Sklaverei und Tod. Doch dann schafft es ein ganz bestimmter Hüter, sein Licht zurückzubekommen. Die fulminant inszenierte Kampagne ist wirklich beeindruckend und Bungie fokussiert in den ersten Spielstunden ausschließlich die Geschichte. Gefällt mir, genau das hat Destiny gebraucht. Klar ist allerdings auch, dass das eigentliche Spiel erst in dem Moment beginnt, in dem Ghaul besiegt ist. Denn im Gegensatz zu anderen Ego-Shootern kommt es hier nicht darauf an den Abspann zu sehen. Nein. Einzig die Ausbildung eures Protagonisten zählt. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt und maßgeblich für die widernatürliche Motivation des Titels verantwortlich.

„Haben Sie einen Moment Zeit, um über unseren Erlöser, den Powerlevel, zu sprechen?“ So nennt sich der Mittelwert aus Angriffskraft und Verteidigung, den nach oben zu schrauben ab sofort eure wichtigste Aufgabe ist. Mit immer neuen Belohnungen in Form von Stiefeln, Helmen, Umhängen oder Waffen klettert man langsam immer höher. Doch natürlich steckt mehr dahinter: In der Kombination der Ausrüstung liegt das Geheimnis. Jede Entscheidung wirkt sich direkt auf eure Statuswerte aus, die zahllosen Waffen haben gänzlich unterschiedliche Stärken und Schwächen. Drei verschiedene Charakterklassen mit diversen Subklassen, dazu divergierende Schadensarten, legendäre und exotische Ausrüstung. Optisch verfeinert ihr euer Alter Ego mit Abzeichen, Shadern oder Gesten und dank bereits angekündigter Erweiterungen kann es durchaus zur Lebensaufgabe werden, das Beste aus der Figur herauszuholen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang noch ein guter Freund von mir, der Zufall. Denn ihr könnt euch nicht das kaufen, wonach euch ist, weit gefehlt, stattdessen entscheidet darüber ein komplizierter Algorithmus. Der Inbegriff von Hassliebe. Doch genug davon an dieser Stelle, denn über die Individualisierung könnte man tatsächlich eine komplexe Abhandlung verfassen. Mir geht es heute aber viel mehr um das Warum. Warum ist ein geistig gesunder Mensch dazu bereit, so viel Zeit in ein Spiel zu investieren?



Zu verdanken haben wir das der Programmierkunst von Bungie. Kein anderer Ego-Shooter fühlt sich so präzise und wertig an. Kein anderer bietet so viel Abwechslung und Vielfalt. Das Spiel lässt sich leicht erlernen, offenbart dann aber eine unglaubliche Tiefe. Mit über zehn Waffengattungen, dutzenden verschiedenen Widersachern, zahllosen Missionen und Aufgaben ist Destiny 2 ungeheuer umfangreich und intensiv. Vieles lässt sich nur im Team und mit anderen Hütern erledigen, weshalb jetzt auch Clans in den Vordergrund rücken. Selbst Leute wie ich, die primär solo agieren möchten, werden vom überwältigenden Teamgefühl mitgerissen. Eingebettet in eine schlüssige und mysteriöse Science-Fiction-Welt, die mich zum Forscher und Abenteurer macht. Überall könnten Geheimnisse oder Schätze warten, neue Beute. Und während die spielerische Komponente läuft wie geschmiert, verdient auch das Leveldesign mein größtmögliches Lob. Die Gestaltung der Planeten mit ihren Tunneln, Hallen und Außenwelten verleiht dem Spiel eine schier unbeschreibliche Brillanz. Ich bestaune den ganz eigenen Stil, die gnadenlos gut durchdachte Struktur, die technische Umsetzung und das Gespür für Atmosphäre.

Mein Leben ist ja schon irgendwie geprägt vom Telespiel. Jedoch wird man selten von einer Urgewalt wie Destiny erfasst. Die Komplexität und Langzeitmotivation dieses Titels, das fein ausbalancierte Gameplay und die Auswirkungen auf mein reales Leben sind beachtlich. Von der täglichen Nutzung der App, bis hin zu hitzigen Diskussionen im Chat. Destiny führt mich von unsagbar gigantischen Konstrukten in Stellungskriege auf kleinstem Raum, fordert meine Reflexe und meinen Intellekt. Das atemberaubende Design, die Magie, die den Titel umgibt, der daraus resultierende Spaß und die individuelle Note heben Destiny auf ein anderes Level. Es beschäftigt mich. Gefährlich und wertvoll gleichermaßen nimmt mich dieses Meisterwerk gefangen, lässt mir kaum Zeit für andere Dinge und schweißt mich enger mit meinen Xbox-Live-Freunden zusammen. Viel enger. Großartig!


★★★★★★     (sehr gut)

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Genre: Ego-Shooter / RPG
Entwickler: Bungie
Publisher: Activision

Release: September 2017
getestet: November 2017 // Xbox One // digital // Englisch // Limited Edition