Mein erster Gedanke am Morgen: „Wie töte ich den letzten Phylakes?“ Dieser mächtige Kopfgeldjäger, der sich Iron Bull nennt, hat mich im ersten Duell eiskalt erwischt und mit wenigen Schlägen in den Tod geschickt. Mein Plan? Wenigstens drei Level aufsteigen, danach beim Schmied meine Waffen auf Level 38 aufpolieren lassen. Und dann locke ich den Bullen in einen Engpass. Am besten warte ich oben auf einem Felsen auf ihn, während er durch das Tal reitet. Noch bevor er weiß, was geschieht, wird er von einer Salve aus Pfeilen getroffen. Vermutlich stürmt er dann auf mich zu. Doch er ist angeschlagen und (erst mal) weit weg. Dann muss ich eigentlich nur noch die Reichweite seiner Lanze mit meinem Schild auskontern und wenn mein Schwert ihm dann Feuerschaden verpasst, ist der Sieg sicher mein.
In den letzten Tagen hat mich Origins tatsächlich völlig vereinnahmt und mittlerweile bin ich seit über 60 Stunden dran. Wurde auch mal wieder Zeit für ein Assassin’s Creed, nachdem ich London und Paris nicht besucht habe. Unterwegs bin ich im ptolemäischen Ägypten. Reichlich Sonne, Wüsten- und Felslandschaften, kleine Dörfer, die Blütezeit Alexandrias und die von Königin Kleopatra. Die Pyramiden von Gizeh gibt es natürlich auch – aber schon seit gut 2.500 Jahren. Ich steuere Bayek, einen Medjai, der sich dem Volk verschrieben hat und als Bindeglied zwischen Karawanenführer und Polizist für Frieden sorgen möchte. Seine Mission gerät jedoch in dem Moment außer Kontrolle, als sein Sohn grundlos getötet wird. Gemeinsam mit seiner Frau Aya ist es nun vor allem der Gedanke an Vergeltung, der ihn antreibt und auf die Spur eines alten Geheimordens bringt, den zu zersprengen fortan euer Ziel ist. Mir hat das Prequel richtig gut gefallen. Vorkenntnisse braucht man quasi keine und dank zahlreicher Zwischensequenzen und vielen wichtigen Figuren kommen Dramatik und Spannung nicht zu kurz. Ein blutiger und konsequenter Feldzug, der die Entstehung des Ordens der Assassinen beschreibt.
Ich kann mich kaum noch erinnern, wieso mir der Einstieg in das Spiel so schwergefallen ist. Lag es vielleicht am komplexen Grundgerüst? Man kennt das ja bei Spielen von Ubisoft: Die vielen Optionen prasseln so schnell auf einen herein, dass man glaubt, die Kontrolle zu verlieren. Erst später weiß man die meisten Features dann richtig zu schätzen. Zumal die Entwickler von Assassin’s Creed ja gerne ein Schippchen drauflegen. Betäubungspfeile? Super! Aber bitte auch noch Brand- und Giftpfeile. Kämpfe in der Arena? Ja, gerne! Aber unbedingt auch noch ein Hippodrom einbauen. Nur eine Funktion je Taste? Ne, die belegen wir doppelt! Und obwohl Origins davon in keinster Weise profitiert, muss natürlich auch der Animus in einer kleinen Geschichte gewürdigt werden. Hat man all das irgendwann verinnerlicht, dann offenbart der Titel eine spielerische Tiefe und Brillanz, mit der zumindest ich nicht gerechnet hatte. Hat mich glatt umgehauen.
Origins ist ein modernes, sehr komplexes und unfassbar großes und umfangreiches Action-Adventure mit diversen RPG-Elementen und zahllosen Möglichkeiten sich zu beschäftigen. Bayek ist ein Bilderbuch-Athlet, der ungelogen jede Wand erklimmt und agil durch die Gegend sprintet. Die helle Freude, langweilig wird das nie. Weitere Hobbys sind Reiten und Schwimmen – und der kompromisslose Tanz mit Söldnern, Soldaten oder Banditen. Die zerpflückt der wehrhafte Medjai mit Lanzen, Hellebarden, Doppelschwertern und Zeptern, die den Gegner entweder auf Distanz bringen oder mit rasanten Schlagkombinationen für Chaos sorgen. Seltene und legendäre Ausrüstung halten ebenso bei der Stange, wie unterschiedliche Bonuseigenschaften der Waffen, beispielsweise Giftschaden oder ein erhöhter Adrenalinausstoß (für Spezialangriffe). Hechtrolle und Schild helfen bei der Verteidigung und dank vier verschiedenen Bogentypen (ja, vier) kann man auch komplett aus der Ferne für Unheil sorgen. Bayek ist wahlweise auch als Schatten der Gerechtigkeit im Einsatz, verschwindet in Schränken oder taucht in hohes Gras ein, um still und heimlich einen Feind nach dem anderen aus dem Spiel zu nehmen. Die Kämpfe wirken anfangs kompliziert, sind aber frei gestaltbar, brachial und wuchtig. Mir hat es gut gefallen. Nicht zuletzt dank Senu, eurem Adler, der aus der Luft das Gebiet sondiert und euch damit massive Vorteile verschafft.
AC sieht unglaublich gut aus. Das auf Hochglanz polierte 4K-Abenteuer ist eines der schönsten Spiele, die ich jemals gesehen habe: der Detailgrad, die Animationen, wunderbare Texturen, phänomenale Weitsicht und beeindruckende Landschaften. Und dann das Wasser! Ein Traum. Dagegen fällt die Akustik leicht ab, allen voran, weil man in Dörfern und Städten nur die gleichen Phrasen hört. Immer und immer wieder. Verschenktes Potential bei einem derart hochwertigen Spiel, dessen Atmosphäre auf höchstem Niveau rangiert. Wenn man das erste Mal vor den Pyramiden steht, das erste Mal nur mit einer Fackel durch ein altes Grab schreitet, eines der vielen Geheimnisse aufdeckt oder mit einer Galeere in den Krieg zieht – es sind Momente, bei denen man Gänsehaut bekommt und mit einem breiten Grinsen vor dem Fernseher sitzt.
Positive Überraschung: Ich hatte nicht mit einem solch gewaltigen Abenteuer gerechnet, nicht mit derart vielen Möglichkeiten und war auch nicht davon ausgegangen, dass die Charakterentwicklung so fein ausbalanciert wurde. Bayek ist facettenreich und zugleich Jäger und Gladiator, Assassine, Kunstturner und Entdecker. Er kann mehr, als er müsste, aber das schadet dem Titel nicht. Handlung, Optik, die frei erkundbare gigantische Spielwelt, jede Menge Geheimnisse und Aufgaben. Dank meiner langen Assassin’s-Creed-Abstinenz ist das Spiel fast wie eine Offenbarung gewesen und hat sich nach hölzernem Einstieg zu einem echten Meisterwerk entpuppt. Ich empfehle jedem, sich etwas Zeit zu nehmen und gemeinsam mit dem Protagonisten den Pfad der Tugend zu verlassen, um den Sand der Wüste mit Blut zu tränken.
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Genre: Action-Adventure
Entwickler: Ubisoft Montréal
Publisher: Ubisoft
Release: Oktober 2017
getestet: Januar 2018 // Xbox One // pal deutsch